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Reingers: Ein grenzüberschreitendes Heimatmuseum

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Ein Volk mit zwei Sprachen, missgünstige Nachbarinnen und Nachbarn oder entfernte Cousinen oder Cousins? Die Nachbarschaft von Tschechinnen und Tschechen, Österreicherinnen und Österreichern und den böhmischen und mährischen Deutschen („Sudetendeutschen“) wurde im Lauf der Zeit, der wechselnden politischen Systeme und Konjunkturen mit den verschiedensten Etikettierungen bedacht. Klar ist: Einfach war sie nie.

Seit 1526 unter einem gemeinsamen Herrscherhaus, war das Zusammenleben von Kooperation und Konflikten, von einem Neben-, Mit- und Gegeneinander geprägt. Die Böhmischen Länder selbst waren seit dem Mittelalter binational. In einem einmal schmalen, einmal breiteren Raum entlang der böhmischen und mährischen Landesgrenze lebten, wie in vielen Städten im Binnenland, Deutsche, welche die Dialekte ihrer fränkischen, schlesischen, bairischen und österreichischen Herkunftsregionen sprachen.  

Wohin mit ihnen?

Die „Erfindung“ der Nation stellte die binationalen Länder genauso wie die Monarchie als Ganzes vor die Überlebensfrage, die 1918 durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg mit ihrer Aufteilung gelöst wurde. Böhmen und Mähren wurden Teile des Nationalitätenstaates Tschechoslowakei, der sich jedoch als Nationalstaat verstand. Die alte böhmisch-mährisch-niederösterreichische Landesgrenze wurde zur Staatsgrenze, die Deutschen „drüben“ waren nunmehr von (Nieder-)Österreich getrennt. Dies alles betraf auch die Region nördlich der Bezirke Gmünd und Waidhofen/Thaya rund um die Städte Neubistritz/Nová Bystřice und Neuhaus/Jindřichův Hradec. Nach der Besetzung durch Hitler-Deutschland, der Errichtung eines Terrorregimes und dem 2. Weltkrieg wurden fast alle Bewohnerinnen und Bewohner innerhalb einiger Wochen im Mai und Juni 1945 nur mit dem, was sie tragen konnten, über die Grenzen vertrieben. Das Land wurde mit Menschen aus allen Teilen der Tschechoslowakei neu besiedelt, viele der Dörfer jedoch im Zuge der Errichtung des „Eisernen Vorhangs“ dem Erdboden gleichgemacht. In Reingers und den angrenzenden Ortschaften fanden die Vertriebenen erste Aufnahme, dauerhaft bleiben konnten sie allerdings nicht. Die meisten wurden im März 1946 von Österreich weiter in das ebenso vom Krieg zerstörte Deutschland abgeschoben.

Wie schreibt man die Geschichte dieses Dramas?

Wie wird man der Tatsache gerecht, dass sich die Protagonistinnen und Protagonisten als Opfer der jeweils anderen fühlen? Wie gelingt es, völlig unterschiedliche Narrative auf eine gemeinsame Geschichte zu präsentieren ohne dabei Partei zu ergreifen?

Gibt es eine neutrale Geschichtsschreibung?

In Reingers entstand in den 1980er Jahren (wie in vielen anderen Orten entlang der Grenze auch) eine „Heimatstube“, die an das Schicksal der Vertriebenen erinnern sollte. Im Stile eines Heimatmuseums der damaligen Zeit gemacht, war sie bald vollgestopft mit Artefakten und Objekten aus der alten Heimat, dazu kamen langatmige Texte. Fast alle, die kamen, brachten ein Erinnerungsstück mit.

Als dann im Dezember 1989 völlig überraschend der „Eiserne Vorhang“ fiel, brachen sowohl alte Wunden wieder auf wie auch bisher ungeahnte Chancen auf Dialog und Verstehen des jeweils anderen an. Es ist den damals Verantwortlichen der Gemeinde Reingers und des „Heimatkreises Neubistritz“ zu danken, dass sie bereits wenige Jahre danach die Initiative ergriffen und auf die tschechischen Nachbarinnen und Nachbarn in Neubistritz zugingen. Resultat dieses oft mühsamen, aber notwendigen Prozessen war der Beschluss zur Errichtung eines Themenweges, der grenzüberschreitend die Geschichte des 20. Jahrhunderts in der Region dreisprachig schildert. Die Schautafeln wurden von einem österreichisch-tschechischen Expertenpaar erstellt und, wo möglich, an den historischen Schauplätzen des Geschehens aufgestellt.

Die Neugestaltung des Museums

Im Zuge dieses Prozesses konnte auch die Heimatstube neu konzipiert werden. Ziel war es, von einer Gedenk- und Erinnerungsstätte für die Betroffenen zu einem Museum zu werden, das umfassend und multiperspektivisch informiert, ohne die ursprüngliche Intention vergessen zu lassen. Der Eingangsraum ist chronologisch gestaltet, zeigt Lebenswelten und Alltag vor 1945, aber auch die großen politischen Umbrüche und ihre Auswirkungen auf das Leben der Menschen vor Ort. Ausgespart wird nichts, auch nicht, wenn es weh tut. Die Narrative werden so auf ihren Tatsachengehalt überprüft.

Der zweite Raum hat Erinnerungscharakter: Ein “Ortebuch“ stellt die Herkunftsorte der Vertriebenen vor, ein nach 1945 zerstörtes Dorf wird in einer Video-Rekonstruktion wieder zum Leben erweckt. Alte bäuerliche Geräte und religiöse Artefakte erinnern an die landwirtschaftlichen und religiösen Lebenswelten in der „alten Heimat.“

Die Neugestaltung erhielt viel Anerkennung. Am erfreulichsten ist es aber, wenn im Gästebuch positive Eintragungen von den alten sowie den neuen Bewohnerinnen und Bewohnern der Region rund um Neubistritz/Nová Bystřice zu lesen sind!

 

Text: Niklas Perzi

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte des ländlichen Raums (IGLR) in St. Pölten (https://www.ruralhistory.at/de) und beschäftigt sich dort am Zentrum für historische Migrationsforschung (zhmf) u.a. mit der Geschichte des österreichisch-tschechischen Grenzraums und seiner Migrationsbewegungen. Das IGLR betreibt seit mehr als zwanzig Jahren Grundlagenforschung und Vermittlung zur Arbeiten und Leben auf dem Land in verschiedenen Räumen und Zeiten.